Auszug Gebäude, Orte und Ereignisse in Arheilgen
- Fundsachen des Arheilger Geschichtsvereinsvon Jürgen Hein-Benz
Schulzeugnisse zu Ur-Ur-Omas-Zeiten
(jhb) Bald gibt es Sommerferien. Doch vorher erhalten die Schulkinder ihre Zeugnisse. Gab es die Zeugnisse schon immer im Sommer? Wie sahen die Zeugnisse früher aus? Der Arheilger Geschichtsverein hat ein Volksschul-Zeugnisheft aus Ur-Ur-Omas Zeiten erhalten. Es gehörte Elisabeth Marie Benz, genannt wurde sie Elise. Dieser Name steht auch auf dem Heft.
Elise Benz kam am 6. Juni 1901 auf die Welt. Sie war das älteste Kind von Marie Benz, eine geborene Beck. Ihr Vater, Wilhelm Benz VII., war Schriftsetzer, der im Druckhandwerk die Texte einer Druckvorlage Buchstabe für Buchstabe aus Bleilettern setzte.
Das Elternhaus von Elise stand am Rand der damaligen Arheilger Bebauung in der Wernerstraße. Nicht weit davon entfernt, hatte die Gemeinde Arheilgen 1895 am Alten Darmstädter Weg (heute: Stadtweg) ein großes Gelände erworben und dort 1897/98 für 37.500 Mark ein neues Schulgebäude mit vier Schulsälen errichtet. Wie Helma Richter im zweiten Band „Geschichten aus Alt-Arheilgen“ berichtet, begann zehn Jahre später auf dem Gelände an der heutigen Bernhardstraße der Bau eines weiteren Schulhauses. Es war für acht Klassen ausgelegt und wurde im April 1908 eingeweiht. Beide Gebäude gehören heute noch zur Astrid-Lindgren-Schule.
1907 eingeschult in die achte Klasse
Elise wurde in der Osterzeit am 8. April 1907 in die achte Klasse der Arheilger Schule eingeschult. Die Volksschule, die acht Schuljahrgänge umfasste, war damals die öffentliche Schule, die von der großen Mehrzahl der Kinder besucht wurde. Die Jahrgänge wurden heruntergezählt. Dies änderte sich erst 1920, als in der Weimarer Republik für alle Kinder eine gemeinsame vierjährige Grundschule eingeführt wurde. Die Gymnasien behielten das Herunterzählen der Jahrgänge noch bis in die jüngste Vergangenheit bei.
Die ersten Noten schrieb Elises Lehrerin, Frau Starcke, am 25. September 1907 in das rosafarbene Din A5 große Zeugnisheft, in dem für jedes Schuljahr ein Zeugnisblatt enthalten ist. Elises wurde in Lesen, Rechnen, Schreiben und Singen unterrichtet. Hinzu kam der Anschauungsunterricht. Heute wäre dies der Sachunterricht. Ganz oben auf dem Zeugnisblatt standen aber die Noten für das Betragen und den Religionsunterricht.
„Betragen“ war recht gut
Elise erhielt eine 1 in Betragen, sie war demnach „recht gut“, wie die Legende auf der ersten Zeugnisseite erläutert. Für Betragen gab es vier Noten, eine 4 wäre „tadelhaft“ und damit völlig unakzeptabel gewesen. Für Leistungen in Schulfächern gab es fünf Noten. Elise erhielt fast nur Einser, lediglich in Singen und Religion eine zwei. In der achten Klasse, sprich Eingangsklasse, bekamen die Kinder nochmals kurz vor Weihnachten Zeugnisse und zum Abschluss des ersten Schuljahres im April. Die sehr gute Schülerin Elise bekam den Versetzungsvermerk. In den folgenden Schuljahren erhielten Elise und ihre Klassenkameradinnen – die Klassen waren nach Geschlechtern getrennt – nur ein Zwischenzeugnis. Unterschreiben musste das Zeugnis immer der Vater oder ein Stellvertreter. Die Unterschrift der Mutter war von der Schulbehörde nicht erwünscht.
Sommerzeit ist zunächst Zeugniszeit
Elises Schulzeit endete am 27. März 1915. Im Jahr zuvor war ihre Mutter gestorben. Elise sorgte sich um den Haushalt und zog vier jüngere Geschwister groß. Nach der Schule arbeitete sie bei der Firma Merck in der Produktion. Die „warmherzige Tante“ verstarb bereits im April 1955, wie sich ihre Nichte Karin Wesp erinnert.
Die generelle Umstellung des Schuljahresbeginns und – endes auf das Ende und den Beginn der Sommerferien erfolgte in Deutschland nach zwei Kurzschuljahren 1967. Seitdem ist die Sommerzeit auch in Hessen zunächst eine Zeugniszeit.
- „Oarhelljer Köpp“ Bademeister Wilhelm Brücher: „Feierowend“ schallt es übern Seevon Jürgen Hein-Benz
(jhb) Der Arheilger Geschichtsverein stellt in dieser Rubrik Menschen vor, die das Leben im Ort am Ruthsenbach prägten, den Alltag in besonderer Weise repräsentierten oder Leistungen erbrachten, die sie über die Ortsgrenzen hinaus bekannt gemacht haben. In dieser Folge stellen wir anlässlich des 100. Geburtstages des Arheilger Mühlchens Wilhelm Brücher III vor. Er war der erste Bademeister des Naturbadesees.
Im Frühjahr und Frühsommer des Jahres 1924 zogen Baukolonnen durch Arheilgen bis kurz vor die Gartengaststätte „Arheilger Mühlchen“. An der „Appelswies“ angekommen, der Arheilger Woog war war damals eher eine tieferliegende nasse Wiese, schachteten sie mit Spitzhacke, Schaufel und Spaten eine große Grube aus. Sie erweiterten diese um alte Tongruben der ehemaligen Ziegelei Wiemer. Diese lag gegenüber der Gastwirtschaft auf der anderen Seite der Wiese und hatte 1919 ihren Betrieb eingestellt. Aus dem Abraum schütteten die Bauarbeiter an der Westseite der Grube einen Damm auf und errichteten darauf einen Sprungturm, zwei hölzerne Umkleidekabinen und ein kleines Kassenhäuschen. Hölzerne Stege, die in den Teich hineinragten, kennzeichneten einzelne Schwimmbahnen.
Gespeist mit dem Wasser des Ruthsenbachs entstand so das Naturschwimmbad Arheilger Mühlchen, das am 3. August 1924 mit einem großen Sport- und Volksfest, Festreden und bengalischem Feuer eröffnet wurde. Heute verläuft auf dem Damm der Brücherweg. Er wurde im Jahr 2000 nach Wilhelm Brücher III, dem ersten Arheilger Bademeister benannt.
Kriegsverletzung an den Stimmbändern
Wilhelm Brücher wurde am 27. April 1886 geboren. Sein Elternhaus stand in der Bachstraße und trägt heute die Hausnummer 18. Nach der Volksschule erlernte Wilhelm Brücher das Bäckerhandwerk. Bereits 1914 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und erst 1918 als „kriegsbeschädigter“ Unteroffizier entlassen. Er erlitt bei einem Giftgasangriff eine schwere Verwundung. So erklärt sich auch seine raue, aber kräftige Stimme, mit der er später als Bademeister seine Kommandos rief. Wenn am Ende eines Badetages sein Ruf „Feierowend“ (Feierabend) über das Mühlchen schallte, lag eine große Autorität darin, eingebettet in warmherziger Menschenfreundlichkeit.
Novemberrevolution in Arheilgen
Heimgekehrt nach Arheilgen engagierte sich Wilhelm Ende 1918 gleich im fünfköpfigen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat der damals noch selbstständigen Gemeinde Arheilgen. Diese Räte hatten sich im Zuge der Novemberrevolution überall im deutschen Reich auf Reichs-, Länder- und Gemeindeebene sowie in einzelnen Betrieben spontan gebildet. Nachdem die staatliche Macht des Kaiserreichs zusammengebrochen war, wurden die Räte zur Keimzelle des gesellschaftlichen Umbruchs. Auf lokaler Ebene kümmerten sie sich vor allem um die Versorgung der Bevölkerung und die Aufrechterhaltung einer staatlichen Ordnung.
In Arheilgen musste der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat seine Arbeit bereits am 22. Dezember 1918 wieder einstellen. Französische Besatzungssoldaten rückten ein. Der Ort gehörte zum sogenannten Brückenkopf Mainz, der nach der Waffenstillstandsvereinbarung unter französischer Kontrolle stand. Die französische Besetzung erfasste den größten Teil des Gemeindegebietes und bestand offiziell bis 1930. Das Arheilger Mühlchen lag im Teil Arheilgens außerhalb der besetzten Zone. Als die demokratisch gewählte Gemeindevertretung mit Bürgermeister Jakob Jung an der Spitze um die krisenreiche Jahreswende 1923/24 den Beschluss fasste, das Naturschwimmbad Mühlchen zu errichten, war dies auch ein symbolischer Akt für den Aufbruch in ein demokratisches und einheitliches Gemeinwesen.
Zurück zu Wilhelm Brücher: Die Familienbäckerei konnte sich in den Kriegs- und Nachkriegsjahren wirtschaftlich nicht halten. Wilhelm wurde deshalb zunächst Schaffner der Dampfstraßenbahn die das Industriearbeiterdorf Arheilgen mit Darmstadt verband. Danach wurde er von der Gemeinde Arheilgen als Bademeister eingestellt.
Bademeister Brücher: „Dene Kloane soll nix bassiern“
Ein Schwimmbad war damals keine Selbstverständlichkeit, es war eine Attraktion der Industriearbeitergemeinde. Die Sportvereine nutzten es als Trainings- und Wettkampfstätte. Die Arheilger zogen zum Mühlchen zur Entspannung und zum gerechten Ausgleich vom Arbeitsalltag. Das „Miehlsche“ war Treffpunkt und Freiraum, über den der Bademeister Brücher wachte: „Dene Kloane soll nix bassiern“, lautete sein Credo.
Zugleich beteiligte sich Wilhelm Brücher am Ausbau des Bades. Mit Chamottsteinen aus ausrangierten Loks, die vom Lokwerk Kranichstein stammten, wurde an einigen Stellen das Ufer befestigt, Büsche und Bäume gepflanzt. Die Bademeistertage waren lang.: Aufsicht und Kontrolle des Badebetriebes, selbst im Winter, wenn der Badesee zum Schlittschuhfahren genutzt wurde, hielt er ein Auge drauf, Reparatur und Ausbauarbeiten, Dienst im Kassenhäuschen. Mit der Zeit entstand das Mühlchen in der Architektur der wilhelminischen Bäder-Tradition. Seit 2015 steht es unter Denkmalschutz.
Wilhelm Brücher heiratete Sophie Benz, die aus der Benze-Familie in der Hundsgasse, heute: Kleine Brückengasse, stammte. Die Eheleute bekamen vier Kinder, von denen leider drei früh verstarben. Ihr verbliebener Sohn hieß, wie konnte es anders sein, ebenfalls Wilhelm. Durch die langen Arbeitstage im Bad lag es nahe, den Familiensitz in die Nähe des Schwimmbades zu verlegen. Deshalb erwarb erwarb Wilhelm Brücher in den 20iger Jahren eine Wiese hinter dem Mühlchen Damm. 1932 zog die Familie dort in das längs zum Ruthsenbach neu errichtete Heim.
Mitbegründer des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold
Auch politisch war Wilhelm Brücher weiterhin aktiv. Georg Mampel berichtet in seiner Geschichte der Arheilger Sozialdemokratie, dass das SPD-Mitglied Brücher zu den Mitbegründern und Führern der Ortsgruppe des demokratischen Wehrverbandes „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ gehörte. Wie auf Reichsebene bestand der überparteiliche Schutzverband zur Sicherung der Demokratie in Arheilgen seit 1924. Ende der Weimarer Republik war das Reichsbanner die größte demokratische Massenorganisation. Doch im Kampf gegen die aufstrebenden Nationalsozialisten blieb auch sie erfolglos.
Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begann in Deutschland die politische Gleichschaltung der Verwaltung und des gesellschaftlichen Lebens. Im April 1933 erließen die Nazis ein Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Mit formalen Mitteln der Demokratie, einem Gesetz, sollte die gezielte Ausschaltung von NS-Gegnern unter Beamten und öffentlichen Angestellten kaschiert werden. Kommunisten, Sozialdemokraten, aufrechte Demokraten, Menschen jüdischen Glaubens waren davon betroffen.
Arbeitsverbot unter den Nazis
Auch Wilhelm Brücher verlor seinen Arbeitsplatz. Sein Engagement für das Reichsbanner war den Nazis sicherlich schon Grund genug.
In der Familie Brücher werden noch zwei weitere Begebenheiten erzählt, die den neuen Machthabern in Arheilgen – Bürgermeister Jung war bereits abgesetzt und der Gemeinderat nazifiziert – ein Dorn im Auge waren: So soll Wilhelm Brücher einen SA-Trupp, der sich nach einer Wehrübung im Mühlchen abkühlen wollte, wegen ungebührlichen Benehmens aus dem Schwimmbad gewiesen haben. Kurz vor seiner Entlassung im Frühjahr 1933 soll er die im Zuge einer Entschlammung im Mühlchen gefangenen Fische an einen jüdischen Fischhändler in Darmstadt verkauft haben. Den Erlös lieferte er in der Gemeindekasse ab. Doch der Handel wurde von den antisemitischen Machthabern nicht gelitten.
„Fliecheralarm“ in den Kriegsjahren
Im Kriegsjahr 1943 konnte Wilhelm Brücher sein Amt als Bademeister wieder aufnehmen. Dies vermerkte er selbst in einem 1946 erstellten Meldebogen für die Stadt Darmstadt – Arheilgen war seit 1937 eingemeindet. Elfriede Weber erinnerte sich auch in dem ersten Sammelband „Geschichten aus Alt-Arheilgen“ wie Wilhelm Brücher die Badegäste stimmgewaltig vor Luftangriffen warnte: „Alles eraus aus em Wasser! Fliecheralarm! Fliecheralarm! Alles eneu in die Hecke, alla, auf schnell, sie kumme!“
Wilhelm Brücher blieb bis zum 1.Januar 1949 Bademeister des Arheilger Mühlchens. Er starb am 6. Dezember 1952 an den Folgen einer Lungenentzündung. Ein Jahr zuvor war er im Winter bei der Rettung von Kindern auf der Eisfläche des Mühlchens eingebrochen und danach erkrankt.