Auszug Gebäude, Orte und Ereignisse in Arheilgen
- Fundsachen des Arheilger Geschichtsvereinsvon Jürgen Hein-Benz
Einleitung: Der Rundgang
Am Samstag, dem 9. November, trafen sich auf Einladung der lokalen SPD über 100 Menschen, um an die Ereignisse der Pogromnacht 1938 in Arheilgen zu erinnern. Es kamen Menschen mit sehr unterschiedlichen politischen Meinungen zusammen. Unter der Führung von Mechthild Benz und Jürgen Hein-Benz vom Arheilger Geschichtsverein suchten sie Orte jüdischen Lebens in Arheilgen auf. Am Rundgang wirkten Michaela Rützel vom Darmstädter Arbeitskreis Stolpersteine und Ulrike Volke, ehemalige Lehrerin an der Arheilger Stadtteilschule und Mitglied der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit mit.Ein Gang im November: Wegmarken jüdischen Lebens in Arheilgen (1. von 3 Teilen)
(jhb) Wir stehen in der Unteren Mühlstraße und biegen in die Bachstraße ein. Heute hat sich das Novembergrau etwas verzogen. Wir erinnern uns auf einem Rundgang an die Ereignisse in Arheilgen vor 86 Jahren. Wir besuchen Orte jüdischen Lebens in Arheilgen und gedenken der Opfer des Pogroms vom 9. bis 11. November 1938. Nie wieder ist jetzt.
In Arheilgen hatte Familie Goge keine Zukunft mehr
Vorbei an der Hochwassermarke, die die Überschwemmung Arheilgens im Sommer 1932 veranschaulicht, kommen wir in der Bachgasse zur Hausnummer 6. Gegenüber der alten Kinderschule praktizierte der jüdische Arzt Dr. Arthur Goge. Er stammte aus Lübeck, hatte in Tübingen Medizin studiert und verlegte im Krisenjahr 1923 seinen Lebensmittelpunkt nach Arheilgen. Was hat ihn in das Industriearbeiterdorf am Ruthsenbach geführt? Das wissen wir nicht.
Dr. Goge behandelte Kassenpatienten, meist aus Arbeiter- und Handwerkerfamilien im Ort. Als Kolonnenarzt des Arbeiter-Samariter-Bundes war er unter den vielen Mitgliedern der örtlichen Arbeiterbewegung und ihren Vereinen bekannt. Schon 1933 riefen die Nazis zum Boykott jüdischer Arztpraxen auf. Die Kassenzulassung verlor Arthur Goge 1937. Er musste die Praxis schließen. In Arheilgen hatten er und seine Familie keine Zukunft mehr.
„Warum habt ihr uns verjagt?“Noch ein paar Schritte entlang des Ruthenbachs, dann biegen wir links über das Brückchen in die kleine Gasse „Nach dem Wieschen“ ein. Früher hieß sie „Große Hundsgasse“. Links vor der Hausnummer 9 liegt ein Stolperstein. Er erinnert an Dora Stern, die hier in einem Café und einem kleinen Kolonialladen ihre Kunden bedient hatte. Am 19. November wollte sie ihren 68. Geburtstag feiern – ihre Nichten Ellen und Lotte Herz, die mit ihrer Mutter bei Tante Dora wohnten, wären sicherlich unter den Gästen gewesen. Doch in der Pogromnacht durchschlug ein Stein eine Scheibe und traf die alte Frau. Von den Folgen dieses Steinwurfs erholte sie sich nicht mehr. Im September 1939 starb sie in einem Heim in Mainz. Wer war dieser Steinewerfer? – Die Familie Herz konnte über Dänemark nach Schweden in Sicherheit fliehen. Lotte und Ellen lebten später in Israel. Ellen hinterließ ein Foto, auf dem sie mit Arheilger Freundinnen des Turnvereins zu sehen ist. Auf der Rückseite stellt sie ihren Freundinnen die Frage: „Warum habt ihr uns verjagt?“
Die Arheilger Synagoge in der Kleinen Hundsgasse
Wir gehen weiter und biegen nach rechts in die Kleine Brückenstraße ein, die früher Kleine Hundsgasse hieß. Wir folgen dem Verlauf der Gasse. Vor der Hausnummer 14 mit Blick auf den Kirchturm der Auferstehungskirche machen wir halt. Hier stand – verdeckt von einem Wohnhaus – die Mitte des 19. Jahrhunderts erbaute Arheilger Synagoge. In dem Häuschen davor wurden jüdische Kinder in Glaubensfragen unterrichtet. Auch ihr Lehrer hatte hier eine kleine Wohnung und das zeremonielle jüdische Frauenbad war in dem Gebäude untergebracht.
Als die Synagoge errichtet wurde, lebten in Arheilgen noch über 150 Menschen jüdischen Glaubens. 1933 waren es noch 24, 1938 zählte die jüdische Gemeinde nur noch 11 Mitglieder. Im Einvernehmen mit der jüdischen Gemeinde Darmstadts verkaufte der Arheilger Jude Leopold Karlsberg das Grundstück mit der Synagoge an die Familie Lücker. So entging sie im November 1938 den Flammen der Nazis. Das Gebäude brannte jedoch später ab, wohl nicht aus Absicht. Der Brand wurde von zündelnden Kindern verursacht.
Ein Teil des Verkaufserlöses ermöglichte 1938 die Flucht von zwei jungen jüdischen Frauen in die USA – es waren Ilse Simon, deren Familie in der Messeler, damals Dieburger, Straße lebte und die 16jährige Franziska Karlsberg, eine Tochter Leopolds.
Sie wollten zerstören.
Um zum Wohnhaus der Karlsbergs zu kommen, folgen wir noch der Kleinen Brückenstraße bis zur Darmstädter Straße. An der Straßeneinmündung werfen wir zunächst einen Blick in Richtung Süden. Dort, wo heute ein Kinderarzt seine Praxis hat, stand das Gasthaus „Zur Sonne“ – das Hahne-Wertsche. Die Arheilger SA hatte es in den 30iger Jahren als Stammlokal zwangsrekrutiert. Dort hatte sich eine Gruppe SA-Schläger auf Anordnung Erich Tannenbergers, des Führers des Arheilger SA-Reservesturms, am Abend des 10. Novembers versammelt, alle in Zivil. Von hier aus schickte Tannenberger sie los in Richtung Felchesgasse. Unterwegs bewaffneten sie sich mit Äxten und anderem Schlagwerkzeug. Sie wollten zerstören.
Ihrem Weg folgen wir nicht. Wir gehen in der „Darmstädter“ nach rechts zum ehemaligen Haus der Familie Karlsberg. Vor dem heute schmucken Fachwerkhaus mit der Hausnummer 3 liegen vier Stolpersteine, verlegt im Jahr 2018 nach Recherchen einer Klasse der Arheilger Stadtteilschule.
Von Arheilgen ins „Judenhaus“ gezwungen
Leopold Karlsberg lebte seit 1921 in Arheilgen. Er heiratete die verwitwete Johanna Simon. Sie brachte die 1915 geborene Tochter Erna mit in die Ehe, die gemeinsame Tochter Franziska kam 1922 in Arheilgen auf die Welt. Ihren Lebensunterhalt verdiente die Familie mit dem Verkauf von Schuhen. In einem Nebengebäude hatten sie einen einfachen Verkaufsraum ohne Werbeanlagen, Leopold zog zudem mit einem Pferdefuhrwerk als Verkaufswagen über Land. Bis 1933 konnte die Familie auskömmlich leben, dann kamen die Boykottaufrufe der Nazis. Ab 1938 hatten die Juden Geschäftsverbot.
Erna floh schon 1934 in die USA, Franziska konnte ihr 1938 folgen. 1940 mussten Leopold und Johanna ihr Haus in Arheilgen verlassen und wurden in ein Sammellager in der Darmstädter Elisabethenstraße 56 umgesiedelt – in ein sogenanntes Judenhaus. Leopold wurde von 1940 bis zur Deportation im März 1942 zur Zwangsarbeit als Ziegeleiarbeiter im Tonwerk Heppenheim gezwungen. Im März 1942 verschleppten die nationalsozialistischen Machthaber Leopold und Johanna in das Konzentrationslager (KZ) Piaski in Ostpolen und töteten sie dort.
- Infokasten 1:
Stolpersteine
Wichtige Wegmarken auf dem Erinnerungsgang durch Arheilgen sind Stolpersteine. Die kleinen Gedenktafeln sind seit 2009 auch vor einigen Wohnhäusern im Stadtteil zu finden. Seit 1996 verlegt der Künstler Gunter Demnig im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus die Stolpersteine in ganz Europa. Mittlerweile sind über 100.000 Erinnerungstafeln verlegt worden. Das Stolperstein-Projekt gilt als das größte dezentrale Mahnmal der Welt. In Darmstadt wird es ehrenamtlich vom Arbeitskreis Stolpersteine getragen. An der Verlegung einiger Stolpersteine in Arheilgen waren Schüler der Stadtteilschule beteiligt.- Infokasten 2:
Unsere Quellen
Die Informationen für den Rundgang verdanken wir der Arbeit der Arheilger Familienforschung um Else Dann, dem Alt-Arheilger Walter Weber, der viel Wissen über die Juden in Arheilgen zusammengetragen hatte, den Nachforschungen von Prof. Helmut Castritius, der Projektarbeit der Arheilger Stadtteilschule, den Recherchen von Manuela Rützel, Ulrike Volke und dem Arbeitskreis Stolpersteine sowie allen, die an den Publikationen des Geschichtsvereins mitgewirkt haben.
Teil 2:
Ein Gang im November: Wegmarken jüdischen Lebens in Arheilgen (2. von 3 Teilen)
(jhb) Wir sind von der „Darmstädter“ nach rechts in die Messeler Straße eingebogen und stehen nun gut 150 Meter weiter vor der Hausnummer 7. Dort stand früher ein Gebäude mit der Mietwohnung der Familie Goge. Dr. Arthur Goge (geb. 1893) hatte im November 1928 Reni Wolf aus Dietesheim bei Mühlheim am Main geheiratet. Im Juli 1931 kam ihre Tochter Vera, im April 1933 kam Ruth Goge auf die Welt. Mit den kleinen Mädchen zogen Arthur und Reni Goge im April 1937 in die Rheinstraße nach Darmstadt. Arthur Goge konnte dort nur noch Patienten behandeln, die nach den Rassegesetzen der Nazis jüdischer Abstammung waren. In der Pogromnacht wurde er wie viele andere tausend Juden in ein KZ verschleppt. Goge kam nach Buchenwald bei Weimar. Er durfte das Lager im Dezember wieder verlassen. Mit dem letzten Geld und der Unterstützung von Verwandten gelang noch die Flucht in die USA, wo die Familie 1940 ankam. Es ist gut, dass die vier Stolpersteine im Gehweg in Arheilgen an diese vier leidvoll gebrochenen Lebensläufe erinnern.
Gebrochene Lebensläufe
Dr. Goge konnte Zeit seines Lebens nicht mehr als Arzt praktizieren. In den USA gab es Sprachbarrieren, die geforderten medizinischen Prüfungen legte er mit 47 Jahren nicht mehr ab. Er arbeitete fortan in der Chemieindustrie. Nach den Berichten seiner Enkel lebte er zurückgezogen in einfachen Verhältnissen und starb 1984 in Cleveland /Ohio, seine Frau Reni starb zwei Jahre nach ihm.
Ein paar Häuser weiter in der Messeler Straße gegenüber vom Arheilger Rathaus liegen zwei weitere Stolpersteine auf dem schmalen Gehweg der Messeler Straße. In der Hausnummer 11 wohnten Berta und Betty Kahn. Die Familie von Betty Kahn lebte über Generationen in Arheilgen. Ihre Schwägerin Berta kam durch Heirat in den Ort. Sie hatten ein Weißzeuggeschäft, in dem sie weiße Stoffwaren aus Baumwolle und Leinen wie Bettwäsche, Tischzeug, Unterwäsche oder weiße Hemden verkauften.
Haben die „Awweles Mädchen“ noch dazugehört?
Der Heimatdichter Georg Benz schrieb Mitte der 60iger Jahre in seinem Buch „Oald Oarhellje“, in dem er in einem fiktiven Spaziergang an das Arheilgen der zwanziger Jahre erinnerte: „Doch besonners denke mir … noch an die ‚Awweles Mädchen‘, die aafach zu ‚Oald-Oarhellje‘ dazu gehehrt howe.“
1938 waren die „Awweles Mädchen“ Berta und Betty 64 und 70 Jahre alt. In der Pogromnacht wurden sie nicht misshandelt, ihr Eigentum blieb in dieser Nacht verschont. Aber haben sie 1938 noch dazugehört? Wurden sie von ihren Nachbarn und Bekannten weiterhin auf der Straße gegrüßt? Hatten sie noch Kundschaft für ihre Stoffwaren? Wurden sie selbst in Arheilger Geschäften freundlich bedient? Welcher Arzt behandelte die alten Frauen, nachdem Dr. Goge seine Praxis hatte schließen müssen?
Die Nürnberger Rassegesetze vom August 1935 stempelten sie als minderwertig ab. Seit dem Sommer 1938 war Ihnen der Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen, beispielsweise zum „Arheilger Mühlchen“ verboten. Ab 1941 mussten Sie gekennzeichnete Kleidung, den „Judenstern“, tragen. 1942 wurden Berta und Betty nach Theresienstadt deportiert. Berta wurde dort im Januar 1943 ermordet, Betty im April.
Wir wechseln die Straßenseite. Das Arheilger Rathaus steht auf unserem Rundgang exemplarisch für die politische Gleichschaltung seit der Ernennung Hitlers zum Reichkanzler durch Reichspräsident Hindenburg und seinen Hinterleuten. Die systematische Ausschaltung der politischen Gegner, die Besetzung von Schlüsselpositionen in Justiz und Verwaltung, die Aushöhlung der demokratischen Rechte waren die Voraussetzung für die Verhöhnung der Menschenrechte, für Diktatur, für staatlich verordneten oder geduldeten Terror und Krieg.
Von der politischen Gleichschaltung zur Diktatur
Arheilgen wählte selbst bei den undemokratischen Reichstagswahlen am 5. März 1933 noch sozialdemokratisch. Die SPD erhielt hier 45,5 Prozent der Stimmen, die NSDAP lag bei 32,5 Prozent. Die Nazis verordneten nach den Reichstagswahlen eine Neubesetzung der Gemeinderäte auf Grundlage der Reichstagswahlergebnisse: Danach hatten SPD und DVD in Arheilgen weiterhin eine Mehrheit im Gemeinderat.
Im April wurde der sozialdemokratische Bürgermeister Jakob Jung, der seit 1919 wiederholt im Amt bestätigt worden war, vom nationalsozialistisch geführten Innenministerium abgesetzt und der Arheilger NSDAP-Ortgruppenleiter Julius Birkenstock (1884-1967) als neuer Bürgermeister eingesetzt. Unter Druck mussten die Gemeinderäte von SPD und DVD ihre Mandate niederlegen. Parteimitglieder der NSDAP wurden als Nachfolger bestimmt.
Örtliche Kommunisten wie Philipp Benz und Sozialdemokraten wie der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende im Gemeinderat Peter Nicolaus oder der Beigeordnete Georg Spengler wurden drangsaliert, verloren ihren Arbeitsplatz oder kamen zweitweise in ein Konzentrationslager. Ihre Parteien und Vereine wurden verboten. Und die Nazis beglichen alte Rechnungen: So inhaftierten sie beispielsweise Wilhelm Lutz einige Zeit im Konzentrationslager Osthofen. Am Ende der Weimarer Republik war er Mitglied des beliebten Arheilger SPD-Kabaretts „Rote Funker“. Wilhelm Lutz hatte bei Auftritten im Löwenhof Adolf Hitler imitiert.
Am 1. April 1937 verfügte NS-Gauleiter Jakob Sprenger die Eingemeindung Arheilgens nach Darmstadt. Erster Ortsverwalter wurde wiederum der NS-Ortsgruppenführer Julius Birkenstock. Im Juli 1937 wurde er von Ludwig Quari abgelöst. Der Nazi Quari war seit 1933 in Gemeindeverwaltung tätig. Nach Jakob Jung (1867-1943) und dem Beigeordneten Georg Spengler (1884-1940) wurden in Arheilgen stellvertretend für viele demokratisch gesinnte Kommunalpolitiker Straßen benannt.
Vom Rathaus zum „Wechsler-Eck“
Auf dem Weg zur Felchesgasse schwirren Fragen im Kopf herum. Was sind uns unsere demokratischen Rechte heute wert? Wer engagiert sich noch für das Gemeinwesen? Kümmern wir uns genug um die Menschen, die wegen Krieg und Verfolgung aus ihrer Heimat fliehen mussten – so wie unsere Arheilger in den 30iger Jahren? Stehen wir an der Seite der Minderheiten, die vielleicht anders aussehen, eine andere religiöse oder sexuelle Orientierung haben? Wer gehört dazu und wer nicht?
Mit diesen Gedanken stoßen wir auf den Stolperstein für Heinrich Orlemann. Er liegt vor derMesseler Straße 30. Mit 26 Jahren wurde Heinrich Orlemann 1935wegen homosexueller Handlungen verhaftet und nach §175 des Strafgesetzbuches zu einer Haftstrafe verurteilt. 1939 wurde er aus dem Gefängnis entlassen. 1941 sperrten ihn die Nazis wegen seiner Homosexualität in das KZ Sachsenhausen. Sie ermordeten ihn am 11. Juli 1942.Der Paragraf 175 existierte von Januar 1871 bis zu seiner Abschaffung im Juni 1994.
- Infokasten 1:
Stolpersteine
Wichtige Wegmarken auf dem Erinnerungsgang durch Arheilgen sind Stolpersteine. Die kleinen Gedenktafeln sind seit 2009 auch vor einigen Wohnhäusern im Stadtteil zu finden. Seit 1996 verlegt der Künstler Gunter Demnig im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus die Stolpersteine in ganz Europa. Mittlerweile sind über 100.000 Erinnerungstafeln verlegt worden. Das Stolperstein-Projekt gilt als das größte dezentrale Mahnmal der Welt. In Darmstadt wird es ehrenamtlich vom Arbeitskreis Stolpersteine getragen. An der Verlegung einiger Stolpersteine in Arheilgen waren Schüler der Stadtteilschule beteiligt.- Infokasten 2:
Unsere Quellen
Die Informationen für den Rundgang verdanken wir der Arbeit der Arheilger Familienforschung um Else Dann, dem Alt-Arheilger Walter Weber, der viel Wissen über die Juden in Arheilgen zusammengetragen hatte, den Nachforschungen von Prof. Helmut Castritius, der Projektarbeit der Arheilger Stadtteilschule, den Recherchen von Manuela Rützel, Ulrike Volke und dem Arbeitskreis Stolpersteine sowie allen, die an den Publikationen des Geschichtsvereins mitgewirkt haben.
Fotos zu Teil 2
Teil 3:
Ein Gang im November: Wegmarken jüdischen Lebens in Arheilgen (3. von 3 Teilen)
(jhb) Nun stehen wir am Straßendreieck, wo die Felchesgasse und die Aaron-Reinhardt-Straße, früher hieß diese Obergasse, auf die Messeler-Straße (Dieburger Straße) einmünden. Gegenüber liegen das Gemeinde- und das Pfarrhaus der Auferstehungskirche. Die alten Arheilger bezeichnen dieses Straßendreieck noch immer als Wechsler-Eck. Die jüdische Familie Wechsler betrieb in der Felchesgasse 2 eine Bäckerei. Der Schornstein der Backstube war weithin zu sehen, vor seinem Abriss trug er noch bis 1965 ein Storchennest.
Der 1901 geborene Heinrich Wechsler war das erste Opfer des Nazi-Terrors in Arheilgen, das an den Folgen der Misshandlungen starb. Heinrich war kein Bäcker, er handelte mit Tierfutter. Er reiste gerne, besuchte die Arheilger Gaststätten und als Fußball-Fan unterstützte er den FC Arheilgen 04.
Mit der Hakenkreuzfahne durch den Ort getrieben
Bereits am 17. März 1933 wurde er von einem SA-Mann misshandelt. In Oarhellje wurde erzählt, der SA-Mann habe Heinrich Wechsler Geld geschuldet, dass dieser ihm für ein Motorrad geliehen hatte.
Der krank zu Bett liegende Heinrich Wechsler wurde aus seiner Wohnung gezerrt, gezwungen die Hakenkreuzfahne vor sich herzutragen und durch den Ort getrieben. Es war eine menschenverachtende Machtdemonstration. Heinrich starb am 21.März 1933 an einer Lungenentzündung. Heinrichs Frau Paula flüchtete mit dem Sohn Werner in die USA. Im Gedenken an Heinrich Wechsler wurde eine Straße im Westen Arheilgens benannt.
1938 lebten von der Familie Wechsler noch Heinrichs 68jährige Mutter, Auguste, eine geborene Simon, und der ältere Bruder Siegfried mit seiner Frau Lina in Arheilgen. Ob Siegfried und Lina im November 1938 noch in der Felchesgasse wohnten, wissen wir nicht. Zuletzt wohnten sie in der „Frankfurter Landstraße 54“, wo heute ebenfalls zwei Stolpersteine an sie erinnern.
Die tief in der Nacht vom 10. auf den 11. November durch Arheilgen ziehenden SA-Männer zogen vom Gasthaus „Zur Sonne“ zum Wechsler-Haus. Wie sie in den Prozessen 1946 und 1950 aussagten, drangen sie in das Gebäude ein. Auguste Wechsler war nicht daheim. Die SA-Meute traf auch in der Backstube niemanden an. Doch die Horde zerschlug alles, was sie vorfand, und warf das zerstörte Mobiliar auf die Straße.
Sie drohten mit Messern und Äxten
Von hier zog die SA-Bande dann weiter zum Haus des Verlegers und Druckers Aaron Reinhard in die Obergasse, heute Aaron-Reinhardt-Straße. Auch wir machen hundert Schritte zurück bis zum Wechsler-Eck. Direkt vor der Hausnummer 2, wo die Stolpersteine liegen, ist es für unsere Gruppe zu eng. Die Stolpersteine für Aaron und Johanna Reinhardt waren die ersten Gedenktafeln, die in Arheilgen am 10.November 2009 verlegt worden sind, gestiftet von den Enkeln Pfarrer Greins.
Aaron Reinhardt, geboren am 25.06.1871, gab die Arheilger Zeitung heraus. Sie wurde im Erdgeschoss des Gebäudes gedruckt. Mit seiner 36jährigen Tochter Johanna wohnte er im Obergeschoß.
Vom Haus der Familie Wechsler rückte die SA-Horde an. Die Bande war auf 10 bis 12 Schläger angewachsen. Zuerst zerstörten sie die Geschäftsräume, dann ging es in die Wohnung der Reinhards.
Aaron und Johanna hatten aus Angst bekleidet im Bett gelegen. Nun wurde die Einrichtung mit Äxten zerschlagen, Aaron getreten und mit einem Messer bedroht. Johanna sprang vor Todesangst aus dem Fenster. Als die Horde schließlich abrückte, blieb die junge Frau vor dem Haus schwer verletzt liegen. Hilfe kam vom Pfarrhaus gegenüber, wo Pfarrer Grein lebte. Karl Grein rief einen Arzt und Krankenwagen für Johanna Reinhardt. Am 13. November starb Johanna an ihren Verletzungen. Wenige Tage später beschmierten Nazis das Pfarrhaus und die Mauer zur Kirche mit dem Graffito: „Schwarzer Karl, Judenhirte, Volksverräter, Sabotage gegen Volksgemeinschaft.“
Arheilger Kirchenkampf
Pfarrer Karl Grein (1881-1957) predigte seit 1920 in Arheilgen. Politisch war er eher konservativ-national eingestellt, aber ein entschiedener Gegner der Glaubensbewegung der Deutschen Christen. Diese wollten die Evangelische Lehre an die NS-Ideologie anpassen. Im Dezember 1933 war Grein Mitbegründer des Pfarrernotbundes, einer der Wurzeln der Bekennenden Kirche.
Schon 1934 protestierte Karl Grein gegen die Zwangseingliederung der evangelischen Jugend in die HJ. Dass sich die ersten SA-Leute in Arheilgen aus der evangelischen Jugend rekrutierten, konnte er nicht verhindern.
Greins Widerstand gegen eine innere Gleichschaltung der Kirche an die Ideologie der Herrschenden führte im November 1934 zu seiner Suspendierung durch den Landesbischof. Der Arheilger Kirchenkampf nahm seinen Lauf. Die Landeskirche setze ihm einen deutsch-christlichen Pfarrassistenten in die Gemeinde, Grein wird suspendiert, aber er feiert unverdrossen den Gottesdienst mit seiner Gemeinde – nachdem die Kirchentür zugenagelt war, im Gemeindehaus, als dieses verschlossen war, in Doppelschichten in der Pfarrwohnung. Hunderte Arheilger nahmen 1935 an diesen Gottesdiensten teil.
Opfer, Täter und Widerstand
Und alles konnte von einem führenden Nazi Arheilgens genau beobachtet werden: Der NSDAP-Ortsgruppenleiter und von 1933 bis Ende 1937 führende politische NS-Beamte Arheilgens, Julius Birkenstock, lebte in einem kleinen Haus gegenüber vom Pfarrhaus. Am Wechsler-Eck lebten die Opfer des Nazi-Terrors, Täter und Brandstifter sowie mutig Widerstehende eng nebeneinander. Im Dezember 1938 nahm sich Aaron Reinhardt aus Gram das Leben.
Auch Auguste, Siegfried und Lina Wechsler überlebten die Nazi-Herrschaft nicht. Auguste wurde im September 1942 nach Theresienstadt verschleppt und starb dort schon einen Monat später. Lina und Siegfried konnten zwar noch Holland fliehen. Dort wurden sie in dem Lager Westerbork, das südlich von Groningen liegt, interniert und 1943 nach Auschwitz gebracht. Siegfried wurde am 30.04.1944, Lina am 31.12.1944 ermordet.
Wohingegen Julius Birkenstock in den Nachkriegsjahren unbehelligt durch den Ort spazieren, Fußballspiele anschauen und seinen Schoppen trinken konnte. Die SA-Leute, die 1946 und 1950 vor dem Landgericht Darmstadt angeklagt wurden, erhielten eine maximal zweijährige Haftstrafe wegen Landfriedensbruchs. Der Tod Johannas floss nicht in die Urteilsfindung ein.
Heute beenden wir unseren Rundgang in der Aaron-Reinhardt-Straße. Bei einem nächsten Rundgang sollten wir auch an Konrad Döbel erinnern, der „Im Ehrlich“ lebte.Am Haus ‚Im Ehrlich 102‘ erinnert eine Gedenktafel an Konrad Döbel.
Konrad Döbel hatte sich nicht an die nationalsozialistischen Rassegesetze gehalten, wurde denunziert und kam ins Zuchthaus. Weil ein Mensch für ihn ein Mensch war, starb er nach Haft und Folter Ende Juli 1941.Neue Stolpersteine für Familie Simon
Und vielleicht können wir bei unserem nächsten Rundgang auch neu verlegte Stolpersteine aufsuchen. Wenige hundert Meter hinter dem Wechsler-Eck in Richtung Kranichstein lebte in der Messeler Straße 70 die Familie Simon. Noch liegen hier keine Gedenksteine.
Jakob und Lina Simon hatten zwei Kinder, Alfred und Ilse. Sie lebten vom Ertrag ihres kleinen Stoffgeschäfts. Alte Arheilger haben berichtet, dass Ihr Geschäft im Novemberpogrom ebenfalls zerstört und geplündert worden ist. Ilse und Alfred Simon konnten aus Nazi-Deutschland fliehen. Ilse mit Hilfe des Verkaufserlöses der Synagoge. Sie überlebten den Holocaust.
Die Eltern sollen 1942 vor ihrer Deportation noch vom Schuster Wambold versteckt worden sein. Aber beide wurden entdeckt, abgeholt, verschleppt, ermordet. Nachdrücklich sollen sich ihre Angstschreie, die sie bei ihrer Abholung ausstießen, auf die Messeler Straße gelegt haben.
- Infokasten 1:
Stolpersteine
Wichtige Wegmarken auf dem Erinnerungsgang durch Arheilgen sind Stolpersteine. Die kleinen Gedenktafeln sind seit 2009 auch vor einigen Wohnhäusern im Stadtteil zu finden. Seit 1996 verlegt der Künstler Gunter Demnig im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus die Stolpersteine in ganz Europa. Mittlerweile sind über 100.000 Erinnerungstafeln verlegt worden. Das Stolperstein-Projekt gilt als das größte dezentrale Mahnmal der Welt. In Darmstadt wird es ehrenamtlich vom Arbeitskreis Stolpersteine getragen. An der Verlegung einiger Stolpersteine in Arheilgen waren Schüler der Stadtteilschule beteiligt.- Infokasten 2:
Unsere Quellen
Die Informationen für den Rundgang verdanken wir der Arbeit der Arheilger Familienforschung um Else Dann, dem Alt-Arheilger Walter Weber, der viel Wissen über die Juden in Arheilgen zusammengetragen hatte, den Nachforschungen von Prof. Helmut Castritius, der Projektarbeit der Arheilger Stadtteilschule, den Recherchen von Manuela Rützel, Ulrike Volke und dem Arbeitskreis Stolpersteine sowie allen, die an den Publikationen des Geschichtsvereins mitgewirkt haben.
Fotos zu Teil 3:
- Fundsachen des Arheilger Geschichtsvereinsvon Jürgen Hein-Benz
Einkauf und Handel in den Geschäften im Ort
(jhb) An die Vielzahl der Geschäfte, an den Handel und die Einkaufserlebnisse in früheren Jahrzehnten erinnerte der Arheilger Geschichtsverein mit einer Fotopräsentation und vorgelesenen Geschichten in seiner Kerb-Veranstaltung am 4.November im Bürgerhaus „Zum Goldenen Löwen“. Karin Wesp und Alexander Pfeiffer vom Vorstand des Geschichtsvereins hatten die Fotos aus dem Vereinsarchiv zusammengestellt.
Der Veranstaltungsraum war gut besucht, als der Vereinsvorsitzende Alexander Pfeiffer ein munteres Frage- und Rätselspiel mit den Gästen veranstaltete: „Bei wem roch es in Arheilgen so gut nach frischem Leder?“ „Wo stand diese Zapfsäule?“ “Wer steht hinter dem Verkaufstresen im Milchgeschäft Völger?“ – Die Antworten aus dem Publikum kamen prompt: „Die Magunde Ohl war es!“ „Beim Sattler Stein wurde jeder Tornister repariert“ „Das war in der Frankfurter Landstraße Höhe…“ „Das war doch…“ „Ach, geh weg! Da irr’n Sie sich. Das ist doch das Textil-Geschäft Frey und daneben sieht man Möbel Windhaus gleich hinter der Kreuzung am ‚Schwanen‘“. – Nicht nur die Erinnerungen der alteingesessenen Oarhelljer wurden geweckt, auch diejenigen, die erst in den letzten Jahren in Arheilgen ihr zuhause gefunden haben, erfuhren viel über die bunte Geschäftswelt in der Zeit von den 20iger bis tief in die 60iger Jahre des letzten Jahrhunderts. Einen Gewerbeverein gibt es schon seit 1890.
An besondere Einkaufserlebnisse erinnerte Mechthild Benz, wenn sie einige der gezeigten Fotos mit vorgelesenen Geschichten und Gedichten lebendig machte: So „klingelte“ in der Geschichte über das „Bonbonglas“ von Else Dann die Türglocke der Drogerie Brücher und die großen Gläser mit roten und grünen „Gutsel“ auf dem Verkaufstresen entfalteten ihre magische Anziehungskraft auf Kinderaugen. Und wie entschleunigt das Einkaufen „beis Sturmfelse“, dem heutigen Woll- Bachmann in der Gute -Gartenstraße“, früher war, beschrieb Elfriede Weber in einer Erinnerung. Beide Geschichten finden sich im zweiten Band “Geschichten aus Alt-Arheilgen“, die die Arheilger Familienforschung gesammelt hatte. Gedichte von Georg Benz, dem Arheilger „Liesje“, rundeten das Programm ab.