Auszug Gebäude, Orte und Ereignisse in Arheilgen
- „Oarhelljer Köpp“ 2. Teilvon Jürgen Hein-Benz
Ruth Fritz – Aus ihrem Glauben wuchs die Lebenskraft
Rückblick auf das Leben einer 101-jährigen Arheilgerin
Ruth Diedrichs an ihrem 100. Geburtstag. Am 22.August wurde sie 101 Jahre alt (Foto: H.W. Diedrichs) (jhb) Ruth Diedrichs ist eine geborene Fritz. Ihre Eltern, Mathilde Piot und Karl Fritz, waren Inhaber des Porzellan-, Spiel- und Haushaltswarengeschäfts, das die Arheilger kurz „beim Fritze Karl“ nannten. Es lag bis Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts an der Frankfurter Straße 5, heute Frankfurter Landstraße 199. Ruth Fritz wurde am 21. August 1922 geboren und konnte vor wenigen Tagen ihren 101. Geburtstag feiern. „Der Arheilger Geschichtsverein (AGV) wünscht ihr nachträglich alles Gute zu diesem außergewöhnlichen Ehrentag“, gratuliert der Vereinsvorsitzende Alexander Pfeiffer. Ruth Fritz, vier Jahre nach dem 1. Weltkrieg geboren, ist eine der wenigen lebenden Zeitzeugen der letzten hundert Jahre Arheilger Geschichte:
Als Selbstversorger durch die Hyperinflation
Ruth wuchs mit ihren beiden Schwestern, der ein Jahr älteren Hedwig und der jüngeren Lydia, in einem religiösen Elternhaus auf. Morgens die tägliche Familienandacht, tagsüber zu den Mahlzeiten Tischgebete, an denen der gesamte Haushalt teilnahm. Er bestand aus der fünfköpfigen Familie, der Haushaltshilfe und dem Lehrjungen sowie weiteren zeitweise anwesenden Familienmitgliedern. Besuche der sonntäglichen Gottesdienste der Evangelischen Gemeinde und nachmittags der Besuch der Bibelstunde der landeskirchlichen Gemeinschaft waren die Regel. Auch war Ruths Mutter eine der Organisten der Gemeinde. In der Kindheit versammelten sich zudem „in der heutigen Straße ‘Nach dem Wieschen Nr.1‘ (…) bis zu 20 Kinder, Nachbarskinder oder Kinder von Gemeinschaftsleuten“ zur wöchentlichen Kinderstunde, wie sich Ruth erinnert.
Die Hyper-Inflation 1923, als die Waren nicht mehr 10 oder 100, sondern drei Billionen Reichsmark kosteten, konnte die Familie als weitestgehender Selbstversorger mit ihren paar Äckern, dem Schwein im Stall und Hühnern im Garten überstehen. Politisch war das gewerbetreibende Elternhaus eher national-konservativ eingestellt, aber nicht parteipolitisch gebunden.
Machtübernahme der NSDAP
Angesichts der Gedenkfeiern fünfzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges und gedrängt von den Fragen ihrer Enkel, begann Ruth, ihre Lebenserinnerungen aufzuschreiben: Darin beschreibt sie, wie auch ihre Eltern Anfang der dreißiger Jahre den vereinfachenden Antworten der Nazis auf die ökonomische, soziale und politische Krise der Weimarer Republik glaubten und Adolf Hitler wählten. Sie erinnert sich, wie sich unter den Nazis ihre Welt veränderte: Sie habe beim Bund Deutscher Mädchen (BDM) mitmachen müssen. Man sei einseitig informiert worden und habe von Bücherverbrennungen gehört. Im Geschäft wurden Waren den jüdischen Kunden heimlich zugesteckt. „Menschen, die anders dachten, verschwanden plötzlich und man hörte hinter vorgehaltener Hand, dass sie sich zur Umerziehung in einem Konzentrationslager befanden, “, berichtet Ruth. Die Eltern sorgten sich zunehmend, dass der totalitäre Anspruch der Nazis auch ihre christliche Welt erfassen und zerstören konnte. Als ihre Schwestern in die NSDAP eintreten wollten, verboten es die Eltern.
Andachten in den Wohnräumen des Pfarrers Grein
Am 1. September 1935 war Ruth Fritz 13 Jahre alt. An diesem Sonntag folgte die Familie der Einladung ihres Pfarrers Karl Grein zu einer Andacht in der Wohnung in seinem Arheilger Pfarrhaus. Die Einladungen hatten zuvor Helferinnen des Frauenvereins straßenweise an die Mitglieder der Gemeinde überbracht. Um 8:30 Uhr begann Pfarrer Grein die erste Kurzandacht. An diesem Vormittag folgten drei weitere Andachten im dreiviertel Stundentakt. An diesem Sonntag besuchten rund 300 Arheilger und Arheilgerinnen die Gottesdienste ihres Gemeindepfarrers. Am nächsten Sonntag sollen es rund 380 Menschen gewesen sein.
Karl Grein war vom evangelischen Landesbischof Ludwig Dietrich gegen den Willen des Arheilger Kirchenvorstandes seines Amtes enthoben, in der Tür zur Auferstehungskirche war das Schloss ausgewechselt worden, die Tür zum Gemeindehaus war zugenagelt. Arheilgen war mitten im Kirchenkampf. Auf der einen Seite die Anhänger der sogenannten Deutschen Christen, die der Nazi-Ideologie aus Rassismus, Führerprinzip und Kriegsverherrlichung folgten. Sie besetzten wichtige Schlüsselpositionen in der Evangelischen Kirche. Auf der anderen Seite Pfarrer Grein als Vertreter der „Bekennenden Kirche“, der eine Unvereinbarkeit von Christentum und Nazi-Ideologie erkannt hatte. Pfarrer Grein leistete Widerstand – den offensichtlichen Gefahren zum Trotz (Über Pfarrer Grein, den „Schwarzen Karl“, erschien ein Band in der Schriftenreihe des AGV).
„Da saßen wir dann in seiner Wohnung und auf der Treppe und hörten auf seine ermutigenden Worte, sangen und beteten. Ohne Risiko war das nicht, denn das Pfarrhaus und die hinein gingen, wurden immer beobachtet,“ erinnert sich Ruth Diedrichs. Gegenüber vom Pfarrhaus wohnte der NSDAP-Ortsgruppenleiter und die Gründung der Arheilger SA ging von ehemaligen Mitgliedern der Evangelischen Jugend aus, die bereits im März 1934 in die Hitler-Jugend überführt worden war. Es kann heute nur spekuliert werden, wie viele Arheilger ihre Teilnahme an den Andachten des Pfarrers Grein als politischen Protest verstanden. Auf alle Fälle war es ein Beispiel mutiger Zivilcourage und ein Bekenntnis zu den christlichen Werten, die Ihnen ihr Pfarrer vorlebte. An den offiziellen Gottesdiensten der Deutschen Christen beteiligten sich Mitte der 30iger Jahre in Arheilgen deutlich weniger Gemeindemitglieder als an den Andachten des Pfarrers Grein.
Nach ihrer Konfirmation besuchte Ruth noch bis Ende der 30iger Jahre Versammlungen des Jugendbundes „Entschieden für Christus“ (EC) in Wixhausen, in Eberstadt und in Heidelberg, wo sie auch ihren späteren Ehemann Helmut K. Diedrich kennenlernte.
Ruth Fritz als junge Frau im Kriegsjahr 1942 (Foto: H.W. Diedrichs) „Das Fritzje“ wird Chefsekretärin
In „Oarhellje“ wurde Ruth „das Fritzje“ gerufen. Sie wurde in die Schule am Stadtweg, der heutigen Astrid-Lindgren-Schule eingeschult. Nach ihrer Erinnerung besuchten von den 70 Mädchen ihres Arheilger Schuljahrganges nur sie und ein weiteres Mädchen eine weiterführende Schule. Ruth wurde auf das christliche Gymnasium des Elisabethenstifts in Darmstadt, die Stiftsschule, geschickt. Dort machte sie die Mittlere Reife und besuchte dann den Zweig der Wirtschaftsoberschule. Sie wollte einmal Handelsschullehrerin werden. Ein geplanter Wechsel zur Wirtschaftsoberschule nach Mannheim, wo sie auch eine Abiturprüfung hätte ablegen können, musste wegen der Bombenangriffe auf die kurpfälzische Industriemetropole abgesagt werden. Ruth fand dann in Arheilgen eine Anstellung als Chefsekretärin bei der kriegswirtschaftlich wichtigen Firma Schenck. Aus dem „Fritzje“ der Arheilger Kindertage war eine charakterstarke, kaufmännisch versierte junge Frau geworden.
Ende 1944 heiratet Ruth Fritz den aus einem Ort der Altmark (heute Sachsen-Anhalt) stammenden Helmut K. Diedrichs. Nach dem Studium wollte er ursprünglich eine Beamtenlaufbahn bei der Reichsbahn einschlagen, war aber wegen Gewissensbissen aus dem nationalsozialistischem Studentenbund wieder ausgetreten. Da er weder der NSDAP noch einer ihrer Massenorganisationen angehörte, wurde er nicht zum Reichsbahninspektor ernannt und wechselte nach Darmstadt zur Firma Merck. Nach der militärischen Grundausbildung wurde er als Konstrukteur für die kriegswirtschaftlich wichtige chemische Industrie, der IG-Farben in Ludwigshafen (heute:BASF), dienstverpflichtet und als unabkömmlich (UK) eingestuft.
Kurz nach der Heirat musste Helmut K. Diedrichs doch noch an die Front und kam in Frankreich in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Im Herbst 1945 flüchtete er abenteuerlich aus dem Gefangenlager nach Arheilgen zu seiner Frau. Ende Februar 1946 galt er als offiziell entlassen.
Das erste Kinderwagenmodell der Firma Euler und Dietrichs wurde am Standort an der Frankfurter Straße gefertigt. Es war ein Konversionsmodell. (Foto: H.W.Diedrichs) Kinderwagen aus Arheilgen und Wixhausen
Im Elternhaus Fritz an der Frankfurter Landstraße musste nach dem Krieg zusammengerückt werden: Beengt wohnten dort über dem Haushaltswarengeschäft die Eltern Fritz, die Schwester Lydia mit ihrem Ehemann Willi Euler, Ruth und Helmut K. und eine Darmstädter Familie, deren Haus von der US-Armee konfisziert worden war. Die schwangere Ruth, sie bringt 1946 ihren ersten Sohn Helmut W. zur Welt, arbeitete im Haushaltswarengeschäft der Eltern. Helmut K. Diedrichs und Willi Euler verwandeln Kriegsschrott in Töpfe, Kellen und Kinderspielzeug, die das Warensortiment erweiterten. Aus diesen handwerklichen Anfängen entstand im April 1946 das Press- und Stanzwerk „Euler & Diedrichs KG“.
Ursprünglich wollte Helmut K. Diedrichs Filmapparate produzieren. Daraus wurde nichts. In der amerikanischen Besatzungszone, zu der das im September 1945 gegründete Land Groß-Hessen gehörte, fehlte es an Kinderwagen. Die Wirtschaft wurde u.a. über Bezugsscheine reguliert und die Besatzungsmacht machte die Ausstellung von Materialbezugsscheinen der Firma Euler & Diedrichs von der Produktion von Kinderwagen abhängig. Also produzierte das Familienunternehmen zunächst mit 10 Beschäftigten am Standort des Haushaltwarengeschäfts Fritz Kinderwagen. Im März 1950 wurden bereits monatlich 700 Kinderwagen in unterschiedlichen Modellen produziert,1953 waren es bereits 1300. Zumindest im Norden Darmstadts begann die Mobilitätswende während des Wirtschaftswunders mit Kinderwagen.
Bei Helmut K. Diedrichs lag die Verantwortung für Planung und technische Entwicklung, Willi Euler verantwortete die Fertigung, Lydia war für Arbeitskontrolle zuständig, Karl Fritz für den Vertrieb. Die Buchhaltung und den Schriftverkehr managte Ruth. Bis ins hohe Alter verantwortete sie die Bilanzbuchhaltung des Unternehmens.
Die Einstellung der Kinderwagenproduktion im Jahr 1958 fiel ausgerechnet in das Geburtsjahr des zweiten Sohnes Harald – ein Kinderwagen stand sicherlich trotzdem fahrtüchtig in Wixhausen bereit, wo das das Unternehmen seit 1953 ausschließlich produzierte. Seit 1955 hat es sich zu einem renommierten Autozulieferer entwickelt.
Ruth und Helmut lagen auch in ihrem Glauben weiterhin auf einer Linie: 1951 gehörten sie zu den Mitgründern der Arheilger Stadtmission. Im gleichen Jahr beteiligten sie sich an der Gründung der Deutschen Missionsgemeinschaft, die heute mit über 400 Beschäftigten weltweit unter dem Motto. „Mission ohne Pression“ agiert. „Sie waren ein Gespann, das sich wunderbar ergänzte. Sie lebten Friedfertigkeit, ohne sich unterkriegen zu lassen,“ resümiert ihr Sohn Helmut W. Diedrichs, der heute auch schon 77 Jahre zählt.
„Beim Fritze Karl“ im Winter 1946- 47. Das Geschäft lag an der Frankfurter Straße 199. Vor dem Haus stand damals eine Shell-Zapfsäule (Foto: H.W. Diedrichs) Das erste Kinderwagenmodell der Firma Euler und Diedrichs wurde am Standort an der Frankfurter Straße gefertigt. Es war ein Konversionsmodell (Foto: H.W. Diedrichs)
- „Oarhelljer Köpp“ von Jürgen Hein-Benz
In lockerer Folge stellt der Arheilger Geschichtsverein in dieser Rubrik Menschen vor, die das Leben in ihrem Ort prägten oder das Alltagsleben im Ort am Ruthsenbach repräsentierten, besondere Leistungen erbrachten oder als Arheilger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens geworden sind. Heute stellen wir vor:
Georg Hensel – Eine Kindheit in Arheilgen und in der Welt des Schreibens zuhause
Der Theaterkritiker und Schriftsteller Georg „Schorsch“ Hensel wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Wie er selbst in seinen Lebenserinnerungen unter dem Titel „Glück gehabt“ schreibt, dauerte seine Geburt drei Tage. An einem glutheißen Sommertag, dem 13. Juli 1923, kam er zur Welt.
Sein Elternhaus stand an der Darmstädter Chaussee, der heutigen Frankfurter Landstraße auf Höhe des früheren und nun neu bebauten Geländes der Arheilger Feuerwehr. Nach einer geglückten Zangengeburt hatte er tatsächlich erneut „Glück“ gehabt: Seine Mutter hatte zwar nicht genügend Muttermilch, aber ihre Cousine, die „Im Leimen“ wohnte, konnte ihn an die Brust nehmen. So bekam er dann gleich noch einen Milchbruder, mit dem er später Schulbank und Rekrutenstube teilte.
„Bücher las man in meinem Elternhaus nicht“, beschrieb Hensel in seinem Erinnerungsbuch. Sein Vater war ein gelernter Schlosser und hatte sich zum beamteten Lokomotivführer hochgearbeitet. Die Lektüre seiner Mutter, einer passionierten Schneiderin, bestand wie in einfachen Haushalten während der Inflations- und Krisenjahre der Weimarer Republik nicht unüblich, vor allem aus Kalenderblättern und ausgeschnittenen Lebensweisheiten. Sie las nicht aus Vergnügen, sondern um den Alltag zu meistern.
Im zehnten Lebensjahr wurde ihm und seiner Generation „der Nationalsozialismus wie ein Sack über den Kopf gezogen“, schreibt Hensel. Auch im sozialdemokratisch geprägten Arheilgen – selbst bei den schon undemokratischen Reichstagswahlen im März 1933 holte die SPD hier noch 45,5 Prozent der Stimmen gegenüber 32,5 Prozent für die NSDAP – tauchten mit der Machtübergabe an Hitler Ende Januar 1933 immer mehr braune Uniformhemden auf: „Und am Abend, beim Fackelzug, sah ich meinen Lehrer, bei dem ich Lesen und Schreiben gelernt hatte, wie er die rechte Hand zum neuen Gruß erhob,“ berichtete Hensel.
Bedrückend und empörend empfand er es, als nach der Reichstagswahl im März der jüdische Futtermittelhändler Heinrich Wechsler, der in der Felchesgasse wohnte und bei dem Hensels Eltern Körnerfutter kauften, von einem SA-Mann aus dem Krankenbett gezerrt und durch das Dorf getrieben wurde. Der „Wechslerheiner“ war zwei Tage später tot. „Der SA-Mann schuldete ihm Geld für ein Motorrad, das war Dorfgespräch,“ erinnert sich Hensel. Er beschreibt aber auch wie die Menschen bei fortschreitender Gleichschaltung unter dem Hakenkreuz abstumpften, sich zurückzogen oder anpassten.
„Haben Sie noch verbotene Bücher?“
Umso erstaunlicher ist es, wie sich Georg Hensel trotz Rassenhass und politischer Unterdrückung, trotz Bücherverbrennungen und der Gleichschaltung aller Lebensbereiche, Buch um Buch die Welt der Literatur aneignen und sich so in eine “Gegenwelt“ zurückziehen konnte, wie es sein späterer Kollege bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einmal ausdrückte.
Nach der Lebenserinnerung Hensels musste diese Gegenwelt sogar erobert werden: Er beschreibt, wie er immer mehr unter den Nazis verbotene Bücher lesen wollte und diese auch fand – in den Ramschkästen der Darmstädter Antiquare, in der zweiten Bücherreihe von Bekannten, sogar in der Landesbibliothek im Schloss oder bei Buchsammlungen der Hitler-Jugend für die Frontsoldaten.
Als ein neuer Buchhändler von Berlin nach Darmstadt kam, suchte er nach eigener Schilderung gleich den Buchladen auf und betrat ihn mit der hoffnungsvollen Frage: „Heil Hitler, haben Sie noch verbotene Bücher?“ Der Buchhändler Robert d’Hooghe nahm dem Heranwachsenden die gefährlich-groteske Ansprache nicht übel. Nach dem Krieg wurde er Hensels Freund.
Theaterkritiker aus Liebe, Lust und Leidenschaft
1941 machte Georg Hensel ein Notabitur. Nach der Infanterie-Grundausbildung folgt die Funk-Ausbildung. Er hatte das Glück, dass die Nachrichten-Fernaufklärungs-Kompanien eher in die friedlicheren Stellungen des Krieges einrücken durften. Nach dem Krieg, als das Darmstädter Echo ab November 1945 erscheinen durfte, war Georg Hensel der erste Volontär der Zeitung. Schauplatz des Darmstädter Theaters war damals die barocke Orangerie, von dort aus eroberte er die Welt des Schauspiels.
Georg Hensel blieb bis 1974 beim Darmstädter Echo. Lange Jahre leitete er dessen Feuilleton und wurde zum bekannten und bedeutenden Theaterkritiker. Von 1975 bis 1989 war er leitender Theaterkritiker der FAZ. „Ein Kritiker aus Liebe, Lust und Leidenschaft“, wie Jürgen Diesner, der spätere Feuilletonchef des Echos zum 70igsten Geburtstag Hensels urteilte. „Wenn man diesem Kritiker einen Vorwurf machen kann, so bestenfalls den, dass seine Kritiken meist unterhaltsamer sind als die Aufführungen selbst.“
Marcel Reich-Ranicki meinte: „Von allen Theaterkritikern nach 1945 ist Hensel wohl der sinnlichste. Wie kaum einer seiner Zeitgenossen kann er das Klima eines Dramas einfangen, das Aroma einer Aufführung wiedergeben.“ Seine Sprache war dabei sparsam, klar und durchsichtig. Er wollte verstanden werden.
Hensel lebte nach dem Grundsatz: „Wenn man über einen Gegenstand nichts weiß, muss man über ihn ein Buch schreiben.“. Diesem Grundsatz des Autodidakten Hensel verdanken seine Zeitgenossen und die Nachwelt sein Hauptwerk. In seiner Echo-Zeit schrieb er den zweibändigen Schauspielführer „Spielplan. Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart.“ Er schien in erster Auflage 1966 als 1300-seitiges Werk und wuchs um Neuauflage und Neuauflage. Reich-Ranicki rühmte dieses Werk: „Auf meinem Bücherregal neben meinem Schreibtisch steht der Hensel zwischen Brockhaus und dem Duden – in der Nähe der Bibel.“ Georg Hensel erhielt zahlreiche Preise, so zum Beispiel den Johann-Heinrich Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Nach der Pensionierung schrieb er u.a. sein autobiographisches Buch „Glück gehabt. Szenen aus einem Leben.“, das 1994 erschien und ein Bestseller wurde. Das Buch ist in zehn Erinnerungskapiteln unterteilt, dem jeweils eine Erzählung zugeordnet ist.
„Hensel hatte seine gesamte Existenz auf das Schreiben gestellt, die Welt, die er im Theater, im Buch und auf Reisen fand schreibend begriffen und ergründet,“ schrieb Jürgen Diesner 2003 in Gedenken an den großen Autor.
Georg Hensel war verheiratet und hatte einen Sohn, zuletzt lebte er in Darmstadt auf der Rosenhöhe. Er starb am 17. Mai 1996. Seine Grabstätte befindet sich auf dem Arheilger Friedhof.
Jürgen Hein-Benz
Bildunterschriften zu den übermittelten jpg-Dateien:
Foto 1 – Porträt Georg Hensel
Georg Hensel wurde vor 100 Jahren am 13.Juli 1923 in Arheilgen geboren. Sein Grab ist auf dem Arheilger Friedhof Foto:Kunst-Archiv-Darmstadt)
Foto 2 – Darmstädter Chaussee
Die alte Postkarte zeigt die Darmstädter Chaussee, die heutige Frankfurter Landstraße, wie sie mit Blick aus dem Elternhaus Hensel in Richtung Darmstadt 1923 ungefähr aussah. 1924/26 wurden viele Lindenbäume für die „Elektrische“, die Elektrifizierung der Straßenbahn, gefällt (Foto: Archiv Arheilger Geschichtsverein).
Zeitzeugen gesucht
Der Arheilger Geschichtsverein sucht Zeitzeugen, die über eigene oder Familienerinnerungen aus Arheilgen in der Natzi-Zeit (1933-1945) sowie der Nachkriegszeit des Ortes verfügen und davon in einem Interview berichten möchten. Interessenten mögen sich bitte über das Kontaktformular auf der Website des Vereins melden: https://arheilger-geschichtsverein.de/kontakt