„Oarhelljer Köpp“ Rudolf Heinrich Bohl – Kindheit und Leben in der Messeler Straße (Folge 2)

(jhb) Der Arheilger Geschichtsverein stellt in dieser Rubrik Menschen vor, die das Leben im Ort am Ruthsenbach prägten, über den vergangenen Alltag der Menschen berichten können oder Leistungen erbrachten, die sie über die Ortsgrenzen hinaus bekannt gemacht haben. In einer kleinen Serie mit drei Folgen berichten wir nun über Menschen und Veränderungen in der Messeler Straße, an die sich Rudolf Bohl erinnern kann.

Der Wandel von der betulichen Geschäftsstraße zur innerörtlichen Verbindungsstraße

(jhb) Die Messeler Straße ist Arheilgens Hauptverkehrsader in Richtung Ost-West. Sie verbindet und durchläuft das Ober- und Unterdorf. Zwischen der Schreiberpforte im Westen und dem früheren Kerwe-Platz beim heutigen Mucker-Haus im Osten liegen die Zehntscheuer, das Pfarrhaus und die Kirche und bis zur Eingemeindung im Jahr 1937 das Rathaus. Danach waren dort die Bezirksverwaltung und später eine Polizeistation untergebracht. In der Messeler Straße standen die ersten Schulhäuser des Ortes, die Apotheke, zahlreiche Gaststätten, Handwerksbetriebe und Geschäfte. Wie hat sich die Straße verändert? Wie und wovon lebten die Menschen in früheren Jahrzehnten? Welche Ereignisse prägten das Leben der Anwohner? Wer kann heute noch von den großen Veränderungen berichten? – Wir sprachen mit Rudi Bohl, der seit fast 90 Jahren in dem freundlichen Haus mit der Hausnummer 26 in der Messeler Straße, frühere Dieburger Straße, lebt.

„Halb Europa war auf der Straße“

Schon in den Wochen vor der Befreiung Arheilgens durch einrückende amerikanische Soldaten am 25. März 1945 und in den Monaten nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 zogen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten mit ihren Habseligkeiten über die Messeler Straße durch den Ort. Hinzu kamen Militärkolonnen, befreite Zwangsarbeiter, displaced persons – „Halb Europa war auf der Straße“, erinnert sich unser Zeitzeuge.

Den Hungerwinter 1946/47 konnte Familie Bohl wie viele Arheilger Familien nur durch die Erträge aus ihrem Garten und einem kleinen Acker überstehen. In den Hinterhöfen und Ställen an der Messeler Straße wurden Kleinvieh oder ein Hausschwein gehalten. Rudi verdingte sich wie viele Kinder als Erntehelfer bei den Arheilger Bauern.

Wohnungs- und Raumnot

Kriegsheimkehrer, Flüchtlingsfamilien, Einquartierungen der Amerikaner, ausgebombte Darmstädter – in den Häusern musste noch mehr zusammengerückt werden. Die Lösung der Wohnungsnot war eines der drängendsten Probleme der Nachkriegszeit. Allein in Arheilgen fehlten 800 Wohnungen, wie Peter Benz in einem Beitrag für den Geschichtsverein über diese Jahre berichtet hat.

Auch an der Arheilger Volksschule, die Rudi Bohl nun schon im Stadtweg besuchte, herrschte Raumnot, da Teile der Darmstädter Berufsschulen hierhin ausgelagert worden waren. Nach der Volksschule fuhr Rudi mit 11 Mitschülern aus Oarhellje mit der „Elektrisch“ zur Justus-Liebig-Schule, die er mit der Mittleren Reife abschloss. 1955 begann er eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei dem Darmstädter Bauunternehmen Gabriel Dressler.

Wie die Puhllöcher verschwanden

Seinen Ausbildungsbetrieb hatte er schon im Jahr zuvor hautnah erlebt: Eine Baukolonne der Firma Dressler riss 1954 Dieburger Straße, die nun Messeler Straße hieß, auf und verlegte dicke Abwasserrohre. In diesen Jahren wurden Arheilgens Wohnhäuser weitgehend an die Kanalisation angeschlossen. 1958 nahm die Arheilger Kläranlage in der Weiterstädter Straße ihren Betrieb auf. Die Puhl-Gruben konnten trockengelegt werden.

Stadtgasleitungen lagen schon lange unter dem Pflaster der Messeler. „Meine Mutter kochte, solange ich mich erinnern kann, auf dem Herd mit Stadtgas“, erzählt Rudi. Wie eine Nachfrage beim Netzbetreiber e-netz Südhessen und alte Leitungskarten belegen, war Arheilgen schon um die Wende vom 19. ins 20 Jahrhundert mit Gasleitungen erschlossen. Diese Leitungen wurden Mitte der 1950er Jahre ebenfalls erneuert, obwohl in dieser Zeit Elektroherde allmählich die Gas-, Kohle- oder Holzherde verdrängten. Auch die Gaslaternen wurden an der „Messeler“ wie im ganzen Ort gegen elektrische Leuchten ausgetauscht.

Kulturelles Leben

Das gesellschaftliche Leben kam erst langsam in Schwung, nahm dann aber beträchtlich Fahrt auf. „Der geistige Hunger nach freier Betätigung war genauso groß wie der physische,“ schrieb Peter Benz. 1952 zog eine Zweigstelle der Stadtbücherei in das damals erneuerte alte Rathaus.

Das Kino erlebte mit amerikanischen Western und der „heilen Welt“ der deutschen Heimatfilme eine Blütezeit. 1949 zog der Arheilger Kinobetreiber Reinhard Bennicke vom Löwen-Saal in den zum Kino umgebauten Saal des „Grünen Baums“ an die „Messeler“. Erst 1972 wurde es geschlossen. Dann beherbergte der Saal eine Druckerei und nun seit einigen Jahren das freie Theater „Neue Bühne“.

Glocken auf der Messeler Straße

Rudi Bohl wurde 1949 in der Auferstehungskirche konfirmiert. Nach der Konfirmation begann er, im Posaunenchor seiner Kirchengemeinde Trompete zu spielen. Mit dem Posaunenchor konnte er so im März 1952 die große Festgemeinde unterhalten, die die Anlieferung von zwei neu in Gießen gegossenen Glocken für die Auferstehungskirche feierte. Die Glocken wurden von Kranichstein kommend über die Messeler Straße auf einem Pferdefuhrwerk mit gummibereiften Wagenrädern der Familie Appel von der Leibchesmühle angeliefert, so die Erinnerung unseres Zeitzeugen. Seitdem besteht das Arheilger Kirchengeläut aus vier Glocken.

In den letzten Kriegsjahren hatte nur eine kleine Glocke läuten können, zwei Glocken mussten als Rohstoffreserve abmontiert werden. Davon wurde eine Glocke tatsächlich für die Rüstungsproduktion eingeschmolzen. Die zweite abmontierte Glocke wurde zufällig auf einem

Glockenfriedhof in Hamburg wiedergefunden und rollte bei ihrer Anlieferung bereits im Frühjahr1947 von Wixhausen kommend über die Messeler Straße zur Kirche – begleitet von einem Festumzug. Die Geschichte der Arheilger Glocken hat u.a. Marga Kröker aufbereitet. Darüber erzählen wir ein anderes Mal mehr und ausführlich.

Rudi liebt die Trompete

Rudi Bohl liebt die Trompete. Wenn er von seinem Instrument erzählt, spitzen sich freudig die Lippen zum Jubilieren. Parallel zur Ausbildung im Arheilger-Chor erhielt er Privatunterricht für 2 Mark pro Stunde. Sein Talent wurde entdeckt. Schon 1954 trat er mit einem Blechbläserensemble der Landesmusikschule bei den Burgfestspielen in Jagsthausen auf. Die Bläser gestalteten die Bühnenmusik im hochkarätig besetzten „Götz von Berlichingen“ – dem Goethe-Schauspiel, das dort seit 1950 alljährlich in der „Götzenburg“ aufgeführt wird. Ab 1955 nahm er Trompetenunterricht in Frankfurt. Später spielte er sehr oft aushilfsweise in Frankfurter und Mannheimer Orchestern. Bis Ende der 60er Jahre hielt Rudi Bohl auch dem Arheilger Posaunenchor die Treue.

Familiengründung und Karriere

1962 heiratete Rudi Bohl. Mit seiner Frau Hedwig, sie ist eine geborene Cezanne, bekam er zwei Kinder. Das Zuhause der Familie und der persönliche Rückzugsort blieb die Messeler Straße, obwohl es ihn 1960 beruflich nach Frankfurt zog. Dort machte er in der Baubranche beruflich Karriere. Mit 62 Jahren ging er als Einkaufs-Chef des Baukonzerns „Bilfinger+Berger“ in den Ruhestand.

In den Jahren, die Rudi Bohl beruflich in Frankfurt verbracht hatte, wandelte sich die Messeler Straße aus einer etwas „betulichen“ Geschäftsstraße zu einer „innerörtlichen Hauptverbindungsstraße“. (Fortsetzung folgt)

Nach der Verlegung der Kanalisation werden Pflastersteine in der Messeler Straße auf Höhe des Anwesens Frey und des Friseurgeschäfts Best Mitte der 1950er neu verlegt. (Foto: AGV)
Nach Diktatur und Krieg machten die Arheilger Vereine das Kulturleben in Arheilgen in den 1950er Jahren wieder bunter. Große Festumzüge zogen durch die Messeler Straße und am Haus Nr. 26 vorbei. Hier auf Höhe der alten Apotheke ein Festwagen im Umzug des Gesangsvereins „Eintracht“, der 1950 sein 80. Gründungsjubiläum feiern konnte. (Foto: AGV)
1949 zog das Arheilger Kino vom Löwen-Saal in den umgebauten Saal des „Grünen Baums“ an die „Messeler“. Amerikanische Western und der deutsche Heimatfilm waren besonders beliebt. In den Kriegsjahren waren im Saal – wie Rudi Bohl sich erinnert – noch Zwangsarbeiter aus Holland und Belgien kaserniert. (Foto: AGV)
Im März 1952 transportierte Heinz Appel (Leibchesmühle) mit seinem gummibereiften Pferdefuhrwerk begleitet von einem festlichen Umzug auf der Messeler Straße zwei neue, in Gießen gegossene Glocken zur Auferstehungskirche. (Foto: AGV)
Rudi Bohl, der junge Mann vorne im dunklen Jackett, liebt sein Instrument – die Trompete. Hier ist er in den 1950er Jahren mit dem Arheilger Posaunenchor auf einem Ausflug.

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