(jhb) Der Arheilger Geschichtsverein stellt in dieser Rubrik Menschen vor, die das Leben im Ort am Ruthsenbach prägten, über den vergangenen Alltag der Menschen berichten können oder Leistungen erbrachten, die sie über die Ortsgrenzen hinaus bekannt gemacht haben. In einer kleinen Serie mit drei Folgen berichten wir nun über Menschen und Veränderungen in der Messeler Straße, an die sich Rudolf Bohl erinnern kann.
Der Wandel von der betulichen Geschäftsstraße zur innerörtlichen Verbindungsstraße
(jhb) Die Messeler Straße ist Arheilgens Hauptverkehrsader in Richtung Ost-West. Sie verbindet und durchläuft das Ober- und Unterdorf. Zwischen der Schreiberpforte im Westen und dem früheren Kerwe-Platz beim heutigen Mucker-Haus im Osten liegen die Zehntscheuer, das Pfarrhaus und die Kirche und bis zur Eingemeindung im Jahr 1937 das Rathaus. Danach waren dort die Bezirksverwaltung und später eine Polizeistation untergebracht. In der Messeler Straße standen die ersten Schulhäuser des Ortes, die Apotheke, zahlreiche Gaststätten, Handwerksbetriebe und Geschäfte. Wie hat sich die Straße verändert? Wie und wovon lebten die Menschen in früheren Jahrzehnten? Welche Ereignisse prägten das Leben der Anwohner? Wer kann heute noch von den großen Veränderungen berichten?
Unter der Hausnummer 26 steht in der Messeler Straße ein kleines, gelb angelegtes Haus. Es ist mit Biberschwänzen gedeckt, die Fensterlaibungen sind sandsteinfarben abgesetzt. Klappläden geben dem Haus ein gemütliches Gesicht. In diesem Haus lebt seit fast 90 Jahren Rudolf – Rudi – Heinrich Bohl. Seine Mutter Elisabeth, eine geborene Kaut, brachte Rudi am 29.Dezember 1935 zur Welt. Sein Vater Heinrich Bohl war Arbeiter bei Schenck und in den 20er und 30er Jahren ein ortsbekannter Fußballer.
Laubhüttenfest am Ruthsenbach
Das Haus seiner Familie wird 1742 erstmals im Grundbuch erwähnt. Es war zuerst in jüdischem Besitz. Das Grundstück umfasste damals auch noch das Gelände, auf dem das frühere Schul- und Apothekengebäude der Messeler Straße 24 steht. Die jüdische Gemeinde hatte hier im Bogenlauf des Ruthsenbachs manch Laubhüttenfest gefeiert. Mordechai Israel verkaufte Haus und Gartenland 1890 an Rudis Urgroßvater Ludwig Schmitt, der es für seine Tochter Helene erstand. Rudis Großmutter Helene Kaut betrieb in einem zur Straße hin gelegenen Raum bis Mitte der fünfziger Jahre ein Kolonialwarengeschäft. In der Zeit als die europäischen Mächte überseeische Kolonien ausbeuteten, wurden Lebens- und Genussmittel aus der Ferne, wie Rohrzucker, Reis, Kaffee und Kakao als Kolonialwaren bezeichnet. Der Name blieb bis in die Nachkriegszeit erhalten.
Als Rudi Bohl auf die Welt kam, hieß die Messeler Straße noch Dieburger Straße. Gleich rechter Hand von der heutigen Hausnummer 26 verläuft noch immer „die Bach“. Wo die Bachstraße auf die Dieburger stieß, lag die Pferdeschwemme. Hier konnte das Wasser des Ruthensbachs durch das Herunterleiern einer Platte gestaut werden, wenn die Arheilger Bauern und Fuhrleute ihre Pferde im Ruthsenbach erfrischen und abschrubben wollten. Bis in die 50er Jahre wurde sie genutzt. „Da gabs noch mehr als 100 Gäul“, erinnert sich Rudi Bohl. Es waren Nutztiere, keine Flanier- und Freizeittraber.
Hufgeklapper auf der Gass
Zu Rudis ersten Kindheitserinnerungen gehören die Geräusche der auf der „Dieburger“ durchfahrenden Fuhrwerke. Wenn er mit seinem Großvater im Hof saß, konnte er viele Fuhrwerke am Hufgeklapper voneinander unterscheiden. “Am besten erinnere ich mich an das Gespann des Zöller-Heinrichs. Das war Heinrich Benz VIII.“, erzählt Rudi Bohl. Haus und Hof dieser Benze-Familie standen in der Darmstädter Gass. Es war vorher eine alte Zoll- und Umspannstation. „Zöller“ kommt von Zöllner. Ebenfalls aus der Darmstädter Gass kam der Erzgräber Heiner, genannt der „Roth“ – wegen seiner roten Haare. „Und in den vierziger Jahren wurde der alte Völger-Hof vor dem ‚Grünen Baum‘ von einer Familie Eichenauer bewirtschaftet,“ erinnert sich Rudi.
Der vorwiegend landwirtschaftliche Ost-West-Verkehr bestand bis in die 50ger Jahr zum größten Teil aus Pferde-Gespannen. Es gab sogar noch Kuh-Fuhrwerke. Danach tuckerten erste Traktoren über die Straße. „Die meisten Arheilger Bauern kauften die Allgaier-Maschine. Andere leisteten sich einen Lanz-Bulldog, gelegentlich sogar einen MAN“, berichtet unser Zeitzeuge.
In den Kriegsjahren von 1939 bis 1945 saßen auf den Fuhrwerken zumeist Frauen und alte Männer. Die jüngeren Kerle, die auf dem Bock oder der Ladefläche saßen, waren in der Regel nicht freiwillig in der Gemeinde am Ruthsenbach. Rudi Bohl erinnert sich an den „Bullo“, den Aris oder den „Oari“. Sie waren Zwangsarbeiter – Kriegsgefangene oder Menschen, die die Nazis aus besetzten Gebieten verschleppt hatten. Sie kamen aus Polen, Frankreich, Belgien und Holland, Italien und vor allem aus der früheren Sowjetunion – aus Russland, Weißrussland, vor allem der Ukraine.
Wer waren „Bullo“, Aris oder „Oari“?
Ohne sie wären Kriegsproduktion und Landwirtschaft zusammengebrochen. Sie mussten mehr schlecht als recht in eingerichteten Lagern hausen. Wie Rudi Bohl berichtet, waren im Gasthaus „Grüner Baum“ gleich am Beginn der Dieburger flämisch sprechende Zwangsarbeiter, Holländer und Belgier untergebracht; in den späteren Kriegsjahren gegenüber im Schwanen-Saal wurden Zwangsarbeiter aus Italien festgehalten. In der Darmstädter Gass im 1. Stock des Gasthauses „Zur Sonne“ waren hinter den vergitterten Scheiben des Tanzsaals rund 40 französische Kriegsgefangene über Nacht eingesperrt, die vor allem bei den Landwirten und dann gegen Kriegsende auch zusammen mit sowjetischen Zwangsarbeitern bei der Firma Schenck – auf dem Gelände des heutigen Glockengartenviertels – arbeiten mussten.
Wenn der Landwirt Ludwig Petri, dessen Hof in der Messeler Straße 41 lag, zwischen April 1941 und Mai 1942 morgens um 7 Uhr den französischen Kriegsgefangenen Francois Avise vom „Hahne-Wertche“ (=Gasthaus „Zur Sonne“) zur Arbeit abholte und abends um 20 Uhr zurückbrachte, kamen sie auch immer an der Messeler Straße 26 vorbei. Über das Schicksal von Francois Avise, der nach dem Krieg und der Zwangsarbeit noch einmal freiwillig nach Arheilgen und zur Familie Petri zu Besuch kam, berichtete Elfriede Weber im ersten Band der Geschichten aus Alt-Arheilgen.
Zu den Kindheitserinnerungen Rudi Bohls gehörten auch die Fliegeralarme. 1941 heulten die Sirenen an 46 Tagen, in den letzten Kriegsmonaten von Januar bis März 1945 gab es über 230 Fliegeralarme. Die Messeler Straße hat die Angriffe – wie Arheilgen insgesamt – vergleichsweise glimpflich überstanden. „Aber wir saßen im Keller und hatten Angst“, erinnert sich Rudi Bohl, „Einmal ging eine Bombe in der Kettenwiesenstraße runter und unser ganzes Haus wackelte.“
Was alles im Puhl-Loch verschwand
Am 25. März 1945 rückten amerikanische Truppen kampflos in Arheilgen ein. Nur am ehemaligen Rathaus an der „Dieburger“ soll ein Schuss gefallen sein, als die Amerikaner das Schloss an der Rathaustür mangels Schlüssel aufschießen mussten. Die nazi-braunen Machthaber waren abgezogen. Wie viele Arheilger standen Rudi und seine Familie an diesem Spätnachmittag vor dem Haus auf der Gass. Aus einigen Fenstern hingen weiße Laken. Das Hakenkreuzbanner, das der NSDAP-Ortgruppenführer Julius Birkenstock an seinem Wohnhaus in der „Dieburger“ gegenüber vom Pfarrhaus immer gehisst hatte, war nicht mehr zu sehen. Viele Parteiabzeichen, Büsten und Fotos von NS-Größen, Orden und Uniformen verschwanden in den Puhl-Löchern – den Sickergruben – an den Häusern. (Fortsetzung folgt)






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