„Oarhelljer Köpp“  

In lockerer Folge stellt der Arheilger Geschichtsverein in dieser Rubrik Menschen vor, die das Leben in ihrem Ort prägten oder das Alltagsleben im Ort am Ruthsenbach repräsentierten, besondere Leistungen erbrachten oder als Arheilger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens geworden sind. Heute stellen wir vor:

Georg Hensel – Eine Kindheit in Arheilgen und in der Welt des Schreibens zuhause

Der Theaterkritiker und Schriftsteller Georg „Schorsch“ Hensel wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Wie er selbst in seinen Lebenserinnerungen unter dem Titel „Glück gehabt“ schreibt, dauerte seine Geburt drei Tage. An einem glutheißen Sommertag, dem 13. Juli 1923, kam er zur Welt.

Sein Elternhaus stand an der Darmstädter Chaussee, der heutigen Frankfurter Landstraße auf Höhe des früheren und nun neu bebauten Geländes der Arheilger Feuerwehr. Nach einer geglückten Zangengeburt hatte er tatsächlich erneut „Glück“ gehabt:  Seine Mutter hatte zwar nicht genügend Muttermilch, aber ihre Cousine, die „Im Leimen“ wohnte, konnte ihn an die Brust nehmen. So bekam er dann gleich noch einen Milchbruder, mit dem er später Schulbank und Rekrutenstube teilte.

„Bücher las man in meinem Elternhaus nicht“, beschrieb Hensel in seinem Erinnerungsbuch. Sein Vater war ein gelernter Schlosser und hatte sich zum beamteten Lokomotivführer hochgearbeitet. Die Lektüre seiner Mutter, einer passionierten Schneiderin, bestand wie in einfachen Haushalten während der Inflations- und Krisenjahre der Weimarer Republik nicht unüblich, vor allem aus Kalenderblättern und ausgeschnittenen Lebensweisheiten. Sie las nicht aus Vergnügen, sondern um den Alltag zu meistern.

Im zehnten Lebensjahr wurde ihm und seiner Generation „der Nationalsozialismus wie ein Sack über den Kopf gezogen“, schreibt Hensel.  Auch im sozialdemokratisch geprägten Arheilgen – selbst bei den schon undemokratischen Reichstagswahlen im März 1933 holte die SPD hier noch 45,5 Prozent der Stimmen gegenüber 32,5 Prozent für die NSDAP – tauchten mit der Machtübergabe an Hitler Ende Januar 1933 immer mehr braune Uniformhemden auf: „Und am Abend, beim Fackelzug, sah ich meinen Lehrer, bei dem ich Lesen und Schreiben gelernt hatte, wie er die rechte Hand zum neuen Gruß erhob,“ berichtete Hensel.

Bedrückend und empörend empfand er es, als nach der Reichstagswahl im März der jüdische Futtermittelhändler Heinrich Wechsler, der in der Felchesgasse wohnte und bei dem Hensels Eltern  Körnerfutter kauften, von einem SA-Mann aus dem Krankenbett gezerrt und durch das Dorf  getrieben wurde. Der „Wechslerheiner“ war zwei Tage später tot. „Der SA-Mann schuldete ihm Geld für ein Motorrad, das war Dorfgespräch,“ erinnert sich Hensel. Er beschreibt aber auch wie die Menschen bei fortschreitender Gleichschaltung unter dem Hakenkreuz abstumpften, sich zurückzogen oder anpassten.

„Haben Sie noch verbotene Bücher?“

Umso erstaunlicher ist es, wie sich Georg Hensel trotz Rassenhass und politischer Unterdrückung, trotz Bücherverbrennungen und der Gleichschaltung aller Lebensbereiche, Buch um Buch die Welt der Literatur aneignen und sich so in eine “Gegenwelt“ zurückziehen konnte, wie es sein späterer Kollege bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einmal ausdrückte.

Nach der Lebenserinnerung Hensels musste diese Gegenwelt sogar erobert werden: Er beschreibt, wie er immer mehr unter den Nazis verbotene Bücher lesen wollte und diese auch fand – in den Ramschkästen der Darmstädter Antiquare, in der zweiten Bücherreihe von Bekannten, sogar in der Landesbibliothek im Schloss oder bei Buchsammlungen der Hitler-Jugend für die Frontsoldaten.

Als ein neuer Buchhändler von Berlin nach Darmstadt kam, suchte er nach eigener Schilderung gleich den Buchladen auf und betrat ihn mit der hoffnungsvollen Frage: „Heil Hitler, haben Sie noch verbotene Bücher?“ Der Buchhändler Robert d’Hooghe nahm dem Heranwachsenden die gefährlich-groteske Ansprache nicht übel. Nach dem Krieg wurde er Hensels Freund.

Theaterkritiker aus Liebe, Lust und Leidenschaft

1941 machte Georg Hensel ein Notabitur. Nach der Infanterie-Grundausbildung folgt die Funk-Ausbildung. Er hatte das Glück, dass die Nachrichten-Fernaufklärungs-Kompanien eher in die friedlicheren Stellungen des Krieges einrücken durften. Nach dem Krieg, als das Darmstädter Echo ab November 1945 erscheinen durfte, war Georg Hensel der erste Volontär der Zeitung. Schauplatz des Darmstädter Theaters war damals die barocke Orangerie, von dort aus eroberte er die Welt des Schauspiels.

Georg Hensel blieb bis 1974 beim Darmstädter Echo. Lange Jahre leitete er dessen Feuilleton und wurde zum bekannten und bedeutenden Theaterkritiker. Von 1975 bis 1989 war er leitender Theaterkritiker der FAZ. „Ein Kritiker aus Liebe, Lust und Leidenschaft“, wie Jürgen Diesner, der spätere Feuilletonchef des Echos zum 70igsten Geburtstag Hensels urteilte. „Wenn man diesem Kritiker einen Vorwurf machen kann, so bestenfalls den, dass seine Kritiken meist unterhaltsamer sind als die Aufführungen selbst.“

Marcel Reich-Ranicki meinte: „Von allen Theaterkritikern nach 1945 ist Hensel wohl der sinnlichste. Wie kaum einer seiner Zeitgenossen kann er das Klima eines Dramas einfangen, das Aroma einer Aufführung wiedergeben.“  Seine Sprache war dabei sparsam, klar und durchsichtig. Er wollte verstanden werden.

Hensel lebte nach dem Grundsatz: „Wenn man über einen Gegenstand nichts weiß, muss man über ihn ein Buch schreiben.“. Diesem Grundsatz des Autodidakten Hensel verdanken seine Zeitgenossen und die Nachwelt sein Hauptwerk. In seiner Echo-Zeit schrieb er den zweibändigen Schauspielführer „Spielplan. Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart.“ Er schien in erster Auflage 1966 als 1300-seitiges Werk und wuchs um Neuauflage und Neuauflage. Reich-Ranicki rühmte dieses Werk: „Auf meinem Bücherregal neben meinem Schreibtisch steht der Hensel zwischen Brockhaus und dem Duden – in der Nähe der Bibel.“ Georg Hensel erhielt zahlreiche Preise, so zum Beispiel den Johann-Heinrich Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Nach der Pensionierung schrieb er u.a. sein autobiographisches Buch „Glück gehabt. Szenen aus einem Leben.“, das 1994 erschien und ein Bestseller wurde. Das Buch ist in zehn Erinnerungskapiteln unterteilt, dem jeweils eine Erzählung zugeordnet ist.

„Hensel hatte seine gesamte Existenz auf das Schreiben gestellt, die Welt, die er im Theater, im Buch und auf Reisen fand schreibend begriffen und ergründet,“ schrieb Jürgen Diesner 2003 in Gedenken  an den großen Autor.

Georg Hensel war verheiratet und hatte einen Sohn, zuletzt lebte er in Darmstadt auf der Rosenhöhe. Er starb am 17. Mai 1996. Seine Grabstätte befindet sich auf dem Arheilger Friedhof.

Jürgen Hein-Benz


Bildunterschriften zu den übermittelten jpg-Dateien:

Foto 1 – Porträt Georg Hensel

Georg Hensel wurde vor 100 Jahren am 13.Juli 1923  in Arheilgen geboren. Sein Grab ist auf dem Arheilger Friedhof Foto:Kunst-Archiv-Darmstadt)

Foto 2 – Darmstädter Chaussee

Die alte Postkarte zeigt die Darmstädter Chaussee, die heutige Frankfurter Landstraße, wie sie mit Blick aus dem Elternhaus Hensel in Richtung Darmstadt 1923 ungefähr aussah. 1924/26 wurden viele Lindenbäume für die „Elektrische“, die Elektrifizierung der Straßenbahn, gefällt (Foto: Archiv Arheilger Geschichtsverein).


Zeitzeugen gesucht

Der Arheilger Geschichtsverein sucht Zeitzeugen, die über eigene oder Familienerinnerungen aus Arheilgen in  der Natzi-Zeit (1933-1945) sowie der Nachkriegszeit des Ortes verfügen und davon in einem Interview berichten möchten. Interessenten mögen sich bitte über das Kontaktformular auf der Website des Vereins melden: https://arheilger-geschichtsverein.de/kontakt


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